Werbung für Jan Wagner oder Sprache satt Sprechblasen

Für die Leser meines Blogs.

Nachdem ich mich über die Sprechblasen des Ostracher Logos zweimal genüsslich ausgelassen, möchte ich heute Werbung machen für einen Meister der Sprache, für Jan Wagner, Träger des Leipziger Buchpreises 2015.

Das nachfolgende Gedicht steht in Wagners Lyrikband Regentonnenvariationen, erschienen bei Hanser Berlin 2015

Ich meine, die sprachliche Virtuosität des Preisträges in nachfolgendem Gedicht ist ein Kontrapunkt zu der sprachlichen Leere gewisser Werbesprüche.

Meine bescheidene Interpretation im Anschluss an das Gedicht ist eine Fingerübung, die ich den Lesern nicht vorenthalten möchte.

giersch

nicht zu unterschätzen: der gierschGiersch
mit dem begehren schon im namen – darum
die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch
wie ein tyrannentraum.

kehrt stets zurück wie eine alte schuld,
schickt seine kassiber
durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,
bis irgendwo erneut ein weißes wider-

standsnest emporschießt. hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch
als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall sprießt, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.

 

„Aber ich habe doch den Wunsch, alle Möglichkeiten, die sich offenbaren, wenn es geht, zu nutzen und mit dem Wortmaterial zu spielen, natürlich auch mich zu berauschen an dem, was in den Worten steckt, also im Giersch auch die Gier zu sehen, zu schauen, wie man weiter kommt mit den Zischlauten, wohin sie einen tragen. Was kann man damit machen? Wie kann man damit spielen? Wie kann man das ins Gedicht einfließen lassen und gleichzeitig dem Giersch als Unkraut gerecht werden? Da hat man im Grunde beides, nämlich das Banale, ein Unkraut, das man eher übersieht oder übersehen, vielleicht wieder loswerden möchte, und gleichzeitig die ganze Fülle der Sprache, die Gier im Giersch und die Lautlichkeit im Giersch. Beides ist vorhanden im Gedicht und kann dazu führen, dass ein gelungenes poetisches Konstrukt entsteht“ (Jan Wagner).

Komplexe sprachliche Kunstwerke nennt Jan Wagner das Gedicht in einem anderen Zusammenhang, das sich mit allem beschäftige, mit den Nebensächlichkeiten und den großen Fragen, leider aber ein Nischendasein führe in den meisten Buchhandlungen, versteckt zwischen dem Regal für Esoterik und dem Regal für Gartenbücher.

Wen dürfte es da noch wundern, dass in dem Gedichtband Regentonnenvariationen Weidenkätzchen, Schlehen, Maulbeeren und Silberdisteln Gegenstand des Gedichtes sind? Eröffnet aber wird der Lyrikband eben mit dem Banalsten, nämlich mit Aegopodium podagraria, dem Giersch, der den Gärtnern als lästiges, wucherndes Unkraut gilt, zu dessen Bekämpfung in einschlägigen Gartenjournalen geeignete Tipps zu finden sind.

Wie kann man aber dem Giersch als Unkraut gerecht werden und sich gleichzeitig an der Fülle der Sprache berauschen, die durch das Wort hervorgerufen wird? Liege vielleicht nicht, so Jan Wagner in seinem Essayband Die Sandale des Propheten, der geringste Reiz des Gedichtes in der Spannung zwischen der Form, die das Gedicht immer sei, und der inspirierten Lust am Spiel und am spontanen Regelbruch.

Im „giersch“ gelingt es Jan Wagner, die Spannung zwischen innerer Form, also eigenem Gehalt, formaler Stimmigkeit, wie er es ausdrückt, und klassischem Formenkanon aufrechtzuhalten.

Das formale Korsett des Gedichtes ist das Sonett; seit dem Barock als strenge Form von Martin Opitz in seiner „Deutschen Poeterey“ definiert. Die innere Form ist die Lust am Spiel mit Sprache. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden macht den Genuss am „giersch“ aus.

Das erste in sich geschlossene Quartett setzt unvermittelt mit einer Ellipse ein, stellt das Thema vor, den Giersch, der nicht zu unterschätzen sei, und verknüpft assoziativ Giersch mit Gier, genauer dem Begehren, das von dem längst nicht mehr gebräuchlichen „gierschen“ etymologisch hergeleitet werden kann. Gibt es die „kühne Metapher“, so gibt es bei Jan Wagner den kühnen Vergleich. Weit auseinanderliegende Ebenen können mit dem Wie-Vergleich verknüpft werden. Das unscheinbare Wörtchen wie „ signalisiert uns, dass die Verknüpfung möglich ist, und wir glauben es ihm; es trägt noch die widersinnigsten Komponenten eines Bildes mit Leichtigkeit …“ (Sandale des Propheten S. 59) „ … die blüten … keusch wie ein tyrannentraum“. Sind es eigentlich die Blütenträume, so bei Goethe in der späteren Prometheus-Fassung, die Metapher für das Unfertige, noch nicht Realisierte sind, wird die Unschuld des Gierschs mit seiner weißen Blütenfarbe betont, im „tyrannentraum“ aber dahingehend relativiert, dass der schwebenden Unschuld das Tyrannische des Unkrauts gegenübergestellt wird. Beides gehört zusammen. Durch den Vergleich wird der Lyriker dem Sprachspiel und dem Giersch als bedrohlichem Unkraut gerecht.

Das zweite Quartett greift im ersten Vers wieder auf das Subjekt des ersten Quartetts zurück, nämlich der Giersch „kehrt stets zurück wie eine alte Schuld“, so dass erste und zweite Strophe miteinander verknüpft sind, auch durch den Vergleich. Die Kriechtriebe des Gierschs werden in Form eines verkürzten Vergleichs als Kassiber, als unerlaubte Mitteilungen, durch den Untergrund geschickt. Reine Spielfreude dürfte jetzt die Häufung der Assonanzen mit ihren dunklen Vokalen sein, die das Subversive dieses Vorgangs hervorheben. Und was jetzt für die Rhythmisierung der Sprache gilt, ein alternierender fünfhebiger Jambus wird dominant, gilt ebenfalls für den Endreim „kassiber –wider“ , nämlich dass Form wie Reim nicht um ihrer selbst willen zu gebrauchen seien, sondern als kreative Stör-und Steuerelemente. Jan Wagner definiert sie als sanften Zwang, der dazu führe, dass man während des Schreibens in Bereiche vordringe, die man selbst zuvor nicht für möglich gehalten habe (Sandale des Propheten S. 91).

Ein „weißes Widerstandsnest“ verknüpft inhaltlich das erste Terzett mit dem ersten Quartett (blüten schwebend weiß), das Enjambement verbindet das Quartett mit dem Terzett; Alliterationen „knirschen, kies, kirsche“ und „garage-giersch-geräusch“ schließen das erste Terzett ab. Nach dem Doppelpunkt im zehnten Vers berauscht sich Jan Wagner an Form und Sprache, kriecht zunächst mit den Enjambements wie der Giersch, verbindet die beiden Terzette und alle Verse bis zum Schluss des Sonetts in einem erklärenden Satz. Noch wird im ersten Terzett der Giersch im verkürzten Vergleich mit der Brandung des Meeres gleichgesetzt (schäumen, gischt), bis dann die letzte Strophe voller Giersch kriecht, sprießt, schiebt, sich selbst verschlingt und es nur noch einen identischen Reim gibt: giersch!

Siehe auch: Monika Rinck, Der Frühling kommt

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Eine Antwort zu Werbung für Jan Wagner oder Sprache satt Sprechblasen

  1. gertrud Bux-Eckhoff schreibt:

    Der Giersch ist auch in diesem Jahr wieder im Vormarsch. Wie schön, dass dies auch poetisch betrachtet werden kann…

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